
FOKUS: „Chiapas in der Spirale bewaffneter und krimineller Gewalt“
10/06/2025
SIPAZ-Aktivitäten (Von Mitte Februar bis Mitte Mai 2025)
10/06/2025D ie Situation in Chiapas ist durch schwere Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. In den letzten Jahren hat die Zahl der Vertreibungen, des Verschwindenlassens von Personen, der Präsenz bewaffneter Gruppen, des Drogen- und Menschenhandels und der politischen Gewalt in dem Bundesstaat in alarmierender Form zugenommen.
Obwohl die Regierung von Eduardo Ramírez Aguilar (ERA) nach den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit Chiapas als den „zweit sichersten Bundesstaat des Landes“ präsentierte, erleben viele Bürger*innen in Chiapas eine andere Realität. Mit der neuen Sicherheitsstrategie, deren zentraler Bestandteil die Fuerza de Reacción Inmediata Pakal, FRIP (dt. Sofortige Reaktionseinheit Pakal) ist, wurden zwar einige Fortschritte erzielt, wie die Verringerung der bewaffneten Auseinandersetzungen, die Entdeckung illegaler Gräber, die Aufhebung von Straßensperren und die Verhaftung mutmaßlicher Drogenhändler. Es bestehen jedoch weiterhin Zweifel, da keine kriminellen Anführer verhaftet wurden und keine rechtlichen Schritte gegen den ehemaligen Gouverneur Rutilio Escandón und andere ehemalige Sicherheitsbeamte eingeleitet wurden. Darüber hinaus wurden während der Operationen der Pakales Menschenrechtverletzungen dokumentiert, darunter auch Vorwürfe über willkürliche Festnahmen und Folter durch die FRIP.
Vor diesem Hintergrund sind diejenigen, die gegen diese Verstöße kämpfen und für Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden eintreten, Menschenrechtsverteidiger*innen wie z.B. Aktivist*innen, Mitglieder von Organisationen der Zivilgesellschaft, Journalist*innen, Kollektive, organisierte Gemeinden und Religiöse. Laut den Vereinten Nationen (UN) schützen Menschenrechtsverteidiger*innen diverse Rechte wie „[…] das Recht auf Leben, Nahrung und Wasser, den höchstmöglichsten Gesundheitsstandard, angemessenes Wohnen, einen Namen und eine Staatsangehörigkeit, Bildung, Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung, […] die Rechte von Frauen, Kindern, indigenen Völkern, Geflüchteten und Binnenvertriebenen sowie nationalen, sprachlichen oder sexuellen Minderheiten“.
Die Verteidigung der Menschenrechte in einem von Gewalt geprägten Umfeld ist mit einem hohen Risiko verbunden. Das Red TDT (dt. Das Netzwerk Alle Rechte für Alle) dokumentierte 92 außergerichtliche Hinrichtungen von Menschenrechtverteidiger*innen während der sechsjährigen Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. „Die meisten dieser Fälle ereigneten sich vor allem in Oaxaca, gefolgt von Chiapas. Die meisten Opfer waren an der Verteidigung von Land und Territorium, der Umwelt und der Selbstbestimmung der indigenen Völker beteiligt.“
Angesichts dieser Realität haben zivilgesellschaftliche Organisationen in Chiapas beschlossen, ein Instrument zur Dokumentation, Sichtbarmachung und Systematisierung dieser Angriffe zu schaffen: Das Observatorium für Menschenrechtsverteidiger*innen in Chiapas – El Obse. s handelt sich um eine Plattform, die von 20 Organisationen getragen wird, die in verschiedenen Regionen des Bundesstaates tätig sind. Dazu gehören die Menschenrechtszentren Fray Bartolomé de Las Casas, Fray Matías, Fray Ignacio Barona und Digna Ochoa sowie Tsomanotik, Colibres, Enlace, IMDEC, Serapaz, Sipaz, Sursiendo, Swefor, Tzome Ixuk und Voces Mesoamericanas. Die Zusammenarbeit zwischen diesen Organisationen begann im Jahr 2023 mit Schulungsprozessen und Austauschtreffen, bis die Plattform am 7. März 2025 mit einer öffentlichen Veranstaltung in San Cristóbal de Las Casas präsentiert wurde.
Seit Januar 2024 hat El Obse 107 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen registriert. Neben der Dokumentation der häufigsten Art von Angriffen bietet die Website der Organisation Informationen über das Profil der angegriffenen Personen, wie z. B. ihr Geschlecht, ihren Beruf und die Rechte, die sie verteidigen, sowie eine geografische Karte der am stärksten betroffenen Gemeinden, neben weiteren.
Bei der Erhebung und Validierung der Daten wird sorgfältig vorgegangen, um die Sicherheit der angegriffenen Personen zu gewährleisten. Nur wenn die Fälle keine zusätzlichen Risiken für die Verteidiger *innen mit sich bringen, werden sie im Internet in einer zugänglichen und georeferenzierten Form veröffentlicht.
Während der Eröffnungsveranstaltung hob Ximena Ramos, Vertreterin des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Mexiko, die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen in gefährdeten Gebieten wie Chiapas hervor und betonte die Verantwortung des mexikanischen Staates, ihren Schutz und ihre Sicherheit in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu gewährleisten.
In seinem ersten Bericht warnte El Obse, dass 2024 das gewalttätigste Jahr des Wahlprozesses in Mexiko gewesen sei, insbesondere in Chiapas. Er stellte fest, dass 15 Personen, die mit dem politischen Prozess in Verbindung standen, in dem Bundesstaat ermordet wurden und 515 ihre Kandidatur aus Angst vor Gewalt zurückzogen. Darüber hinaus konnten 108 Wahllokale aus Sicherheitsgründen nicht eingerichtet werden.
Die Gewalt hat auch zur Vertreibung von mindestens 2.300 Menschen geführt, hauptsächlich aus den Gemeinden Chicomuselo, Socoltenango und La Concordia. Was das Verschwindenlassen von Personen betrifft, so wurden 2024 568 Personen als vermisst gemeldet, im Vergleich zu 320 im Jahr 2023, was einem Anstieg von 77 % entspricht. Dieser Trend nimmt seit 2020 zu und wird von den Behörden weiterhin heruntergespielt oder ignoriert.
El Obse hat verschiedene Formen der Aggression identifiziert, die darauf abzielen, die Arbeit der Verteidigung der Menschenrechte zu behindern: Einschüchterung, Überwachung, Diffamierung, Bedrohung, Erpressung, Missbrauch von Autorität, physische Aggression und sogar Morde. Von der Gesamtzahl der erfassten Angriffe entfielen 70 % auf den physischen und 32 % auf den digitalen Bereich, was zeigt, dass die Verteidigung von Rechten – insbesondere in Bezug auf Land, Territorium und Recht – zu einer risikoreichen Tätigkeit geworden ist.
Unter den Angegriffenen befinden sich vor allem Mitglieder von Zivilorganisationen (69 %), gefolgt von unabhängigen Aktivisten, Journalisten, Gemeinde- und Religionsführern. Bei den Angreifern handelt es sich in erster Linie um nicht identifizierte Akteure, aber auch staatliche Einrichtungen, Sicherheitskräfte und Gruppen der organisierten Kriminalität wurden identifiziert.
Mindestens vier Menschenrechtsverteidiger*innen wurden im Jahr 2024 getötet, darunter Priester Marcelo Pérez Pérez, der am 20. Oktober in San Cristóbal de Las Casas ermordet wurde. Marcelo Pérez, der für seine Arbeit als Tsotsil-Priester der Maya bekannt war, war eine führende Persönlichkeit bei der Friedensbildung, der Verteidigung von Land und Territorium und dem friedlichen zivilen Widerstand gegen Gewalt.
In ihrem Bericht, prangert El Obse auch Trends und Sorgen an: die Ausweitung von Megaprojekten und die damit verbundenen sozio-ökologischen Konflikte, die Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt, eine restriktivere Migrationspolitik, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migrant*innen, die Militarisierung des Territoriums, die Nutzung von Überwachungstechnologien sowohl durch den Staat als auch durch kriminelle Gruppen, die Kriminalisierung von sozialem Protest und die Stigmatisierung junger Menschen, insbesondere indigener Völker. Hinzu kommen Zwangsvertreibungen ohne menschenwürdige Rückkehrbedingungen, Angriffe auf Journalist*innen und die anhaltende Straffreiheit für Übergriffe der Sicherheitskräfte.
El Obse stellt eine kollektive Arbeit dar, um eine Antwort auf die zunehmende Gewalt in Chiapas zu formulieren. Die Plattform geht aus der dringenden Notwendigkeit, die Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger sichtbar zu machen, hervor, in einem Kontext, in dem Schweigen und Straflosigkeit vorherrschen.
Das Observatorium ist ein Instrument des Schutzes und der Erinnerung, das von den Organisationen aufgebaut wurde, die bei ihrer Arbeit selbst täglich Risiken ausgesetzt sind. Ihre Existenz stärkt das Recht auf Verteidigung der Rechte und trägt zur Stärkung des kollektiven Gedächtnisses bei.
In ihrem Artikel: „Das Observatorium von Chiapas: Eine gemeinschaftsbasierte Dokumentation als Antwort auf die Gewalt“ erklärt die Organisation HURIDOCS, die den Prozess der Plattform begleitet: „Die Entwicklung von El Obse zeigt die grundlegende Rolle der Zusammenarbeit und des kollektiven Handelns bei der Bewältigung der Herausforderungen, denen sich Menschenrechtsverteidiger*innen und Verteidiger*innen des Territoriums in Chiapas gegenübersehen. Durch fortgesetzte Partnerschaften und den Aufbau von Kapazitäten in der Dokumentationspraxis wird sich das Projekt weiterentwickeln, um auf die spezifischen Bedürfnisse der Menschen im Territorium zu reagieren.“